29.06.2007

Lieber Sir Salman,

Offener Brief im Rheineischem Merkur an Salman Rushdie
"Wir haben uns aufgegeben wie Depressive. Warum sonst inszenieren im „Karikaturenstreit“ Fanatiker Autodafés, ohne dass Sanktionen ihre Staaten treffen? Warum wird der Filmemacher Theo van Gogh hingeschlachtet, ohne dass Europas Muslime auf die Straße gehen? Warum hetzt ein pakistanischer Minister gegen Sie, ohne dass die Botschafter seines Landes von den Außenministern der zivilisierten Welt einbestellt werden? Überhaupt: Wo ist Europa in diesen Tagen? Worüber reden unsere Minister in Brüssel, was tun unsere Abgeordneten in Straßburg? Sie reden von Quoren, Quoten und Normen. Wir haben unsere Seele an den Konsum verhökert, das Herz an die Bilanzen. Wir leben vom Export von Autos und Waffen, für unsere Arbeitsplätze gehen wir über Leichen, der Götze, den wir anbeten, heißt Öl. [...]

Der Kampf der Kulturen ist der Krieg der Aufklärung gegen die Barbarei. Sie, Sir Salman, wissen das, und oft haben Sie es ausgesprochen. Auch dafür will man Sie töten. Denn Sie sind ein Symbol der Vielfalt und der Phantasie, die Welt Ihrer Geschichten hat nicht eine Wahrheit, sondern Tausende. Die Fundamentalisten aber kennen nur eine; sie wissen genau: Ohne die Freiheit der Gedanken, der Rede und der Kunst gibt es kein Abendland. Deshalb verbrennen sie Ihre Bücher. Dieser Angriff gilt uns allen, die wir auf das Erbe der Aufklärung setzen, auf Menschenrechte, Gewaltenteilung, Religionsfreiheit und auf das Recht, nach der eigenen Fasson selig zu werden. Für diese Werte hat die bürgerliche Gesellschaft einst gekämpft; jetzt schaut sie zu, wie sie verschwinden, an den Rändern, und nach und nach auch hier, in der Mitte unserer kleiner werdenden Welt.

Wir müssen entscheiden, ob wir schützen wollen, worauf wir einmal stolz waren. Doch wie könnten wir verteidigen, wofür wir nichts empfinden? Nur mit Liebe zu unserer Kultur können wir das Gefängnis der Depression verlassen und einen Schritt hinaus aus der Defensive tun, hinaus aus der Angst. Sie, Sir Salman, haben ihn gewagt; seither schwebt Ihr Ballon über dem Abgrund. Wenn wir Sie da oben alleinlassen, stürzen auch wir hinab."

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